Wann benötigt die Veranstaltungsstätte zwei oder mehr Ausgänge bzw. Rettungswege? Dazu findet sich in der (Muster)Versammlungsstättenverordnung eine Regelung, die wir uns genauer anschauen wollen:
In § 6 Abs. 5 MVStättVO heißt es: „Versammlungsräume und sonstige Aufenthaltsräume mit mehr als 100 qm Grundfläche müssen jeweils mindestens zwei möglichst weit auseinander und entgegengesetzt liegende Ausgänge ins Freie oder zu Rettungswegen haben“.
Nun könnte sich die Frage stellen, ob man die „100 qm Grundfläche“ verkleinern kann, indem man bspw. eine große Bar in den Raum stellt. In diesem Fall heißt es: Den Verordnungstext „auslegen“.
Hier hilft zunächst die wörtliche Auslegung: Es heißt Grundfläche, ohne Hinweise auf die besucherzugängliche Fläche.
In § 1 Abs. 2 MVStättVO heißt es bekanntlich auch „Grundfläche“: „Die Anzahl der Besucher ist wie folgt zu bemessen: 1. für Sitzplätze an Tischen: ein Besucher je qm Grundfläche des Versammlungsraumes, …“, und im nächsten Satz: „Für Besucher nicht zugängliche Flächen werden in die Berechnung nicht einbezogen.“
Man könnte nun auf die Idee kommen, dass die Einschränkung „Für Besucher nicht zugängliche Flächen werden in die Berechnung nicht einbezogen.“ auch für die Grundflächenberechnung in § 6 Abs. 5 für die Anzahl der Rettungswege aus einem Versammlungsraum gilt.
Grundsätzlich aber nicht: Diese Einschränkung findet sich explizit nur in der Berechnungsformel des § 1 Abs. 2.
Hätte der Verordnungsgeber gewollt, dass die Grundflächenberechnung auch diese Einschränkung haben sollte, hätte er
- diese Einschränkung auch in § 6 Abs. 5 hineinschreiben können, oder
- die „Grundfläche“ in § 2 unter „Begriffe“ definieren können, oder
- in § 1 Abs. 2 eine so genannte Legaldefinition schreiben können: Legaldefinitionen sind solche Begriffe, die einmal definiert werden und dann im weiteren Verlauf desselben Gesetzes gelten. Legaldefinitionen stehen aber typischerweise in Klammern, bspw. wie in § 121 BGB: Dort wird der Begriff „unverzüglich“ legaldefiniert = ohne schuldhaftes Zögern.
Jedenfalls nach der so genannten Wortauslegung ist somit die Grundfläche in § 6 Abs. 5 die tatsächliche Fläche des Raumes.
Das Ergebnis der Wortauslegung kann sich durchaus ändern bei einer anderen Auslegungsmethode; so gibt es noch die Auslegungsmethode, die nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift fragt. Aber auch mit dieser Methode würde sich kein anderes Ergebnis ergeben:
Sinn und Zweck von zwei getrennten Ausgängen ins Freie ist, dass die sich in dem Raum befindlichen Personen auch retten können müssen, wenn ein Ausgang blockiert ist. Je größer der Raum, desto höher ist auch das Risiko, dass durch einen Vorfall ein Ausgang blockiert werden kann. Dieses Risiko sinkt auch nicht dadurch, dass bspw. durch Gastrostände die besucherzugängliche Fläche verkleinert wird – denn auch von den Gastroständen bzw. anderen Einbauten, die die besucherzugängliche Fläche verkleinern, kann eine Gefahr ausgehen. Anders gesagt: Je größer der Raum, desto mehr kann sich darin befinden, was zu einer Gefahr für die sich im Raum befindlichen Personen werden kann.